
Milchmann
Anna Burns
Von Milchmann, Vielleicht-Freund und Irgendwer-McIrgendwas
„Der Tag, an dem Irgendwer McIrgendwas mir eine Waffe auf die Brust setzte, mich ein Flittchen nannte und drohte, mich zu erschießen, war auch der Tag, an dem der Milchmann starb.“
Viele Autoren wünschen sich den perfekten ersten Satz und ich finde, Anna Burns ist dieser absolut gelungen. Obwohl man jetzt bereits erfährt, dass die Geschichte für den Milchmann nicht gut ausgeht, verliert der Roman auf seinen 450 Seiten nie die Spannung.
Die in Belfast, Nordirland, geborene Anna Burns verarbeitet ihr Aufwachsen während der sog. Troubles, die natürlich ihr Leben, aber auch ihr Schreiben sehr geprägt haben.
„Milchmann“ deckt ca. 8 Wochen Handlung ab und spielt in Belfast. Der Roman ist absichtlich so angelegt, dass keine Figur einen Namen trägt. So verdeutlicht Anna Burns soziale Markierungen und Gruppenzugehörigkeiten. Man könnte die Geschichte auf jede Gegend stülpen, in der Kriegssituationen und Unruhen herrschen.
Protagonistin ist eine 18-Jährige, die sich in eine Art inneres Exil begibt. Sie glaubt, wenn sie ihre Umgebung nicht beachtet, wird auch sie nicht beachtet. Doch im Laufen zu lesen oder einen Französischkurs zu belegen, erregt genauso Aufmerksamkeit. Zum Entsetzen ihrer Mutter ist sie noch nicht verheiratet. Stattdessen wird ihre eine Affäre mit dem 23 Jahre älteren Milchmann nachgesagt. Man könnte dessen Handlungen sicher unter dem Aspekt der aktuellen me-too-Debatten betrachten. Der Milchmann, ein hohes Tier unter den Paramilitärs, die das katholisch-nationalistische Arbeiterviertel beherrschen, weiß alles über das Mädchen. Wer ihr Vielleicht-Freund ist, welche Wege sie läuft, wo sie joggt. Immer wieder taucht er auf, spricht sie an, will, dass sie zu ihm in den Wagen steigt. Doch sie weiß, wenn sie das macht, ist es ihr Ende. Es ist eine Gewalt, die ohne Gewalt stattfindet. Er schafft es, ständig in ihren Gedanken aufzutauchen. Das Gerede wird immer lauter, dabei zieht sie sich immer mehr zurück. Je mehr sie den Anschuldigungen widerspricht, desto weniger glaubt man ihr, verlangt vielmehr, doch endlich alles zuzugeben. Sie geht mit Schwager Drei zum Laufen, nimmt andere Routen, bangt um das Leben von Vielleicht-Freund, wehrt sich mit aller Macht gegen den Milchmann.
Der Roman deckt mehrere Themen ab. Auch Emanzipation wird dargestellt durch die Themenfrauen, die sich zusammengefunden haben um dafür zu kämpfen, dass auch Frauen eine Stimme haben und sich ausdrücken dürfen. Politische Themen werden ebenso aufgegriffen, allerdings nur angedeutet, z. B. als Vielleicht-Freund einen Kompressor eines Bentleys gewinnt. Zunächst freut sich die versammelte Nachbarschaft mit ihm. Doch als erste Zweifel aufkommen, ob man Teile, die von einem königlichen Hoflieferanten kommen, besitzen dürfe, eskaliert die Situation. Die alte Feindschaft zwischen Nordirland und der englischen Krone bricht immer wieder durch.
Leichte Kost ist „Milchmann“ gewiss nicht. Aber es ist wie beim Berg steigen: wenn man den Gipfel erklommen hat, genießt man einfach die Aussicht und ist stolz darauf, den teils beschwerlichen Marsch geschafft zu haben. Auf dem Weg dahin gibt es doch noch die ein oder andere Überraschung. Wer sich bereits im Vorfeld ein wenig mit dieser Zeit, also den Siebziger Jahren, befasst, wird sich um einiges leichter tun und die Figuren und Schauplätze besser einordnen können.

Der Milchmann ist heute ein ausgestorbener Beruf. Mit dem Einzug von Kühlschränken in Privathaushalte und Milch in Supermärkten war der Milchmann nicht mehr wettbewerbsfähig (Stichwort „Disruption“, gab es ja in verschiedenen Formen schon immer). Dabei gehörte er gerade auf der Insel dazu wie die roten Briefkästen. Noch Anfang der 80er Jahre wurden neun von zehn in Großbritannien verkauften Milchflaschen an der Haustür abgeliefert. Heutzutage werden nur noch etwa 3% der Milch direkt an die Haustür geliefert.
Als Kinder haben wir für unsere Nachbarn die Milch in der kleinen Milchkanne direkt vom Bauern abgeholt. Auch auf die Gefahr, dass die Mutter meiner Freundin uns wieder schimpfte, haben wir jedes mal den Rahm von der frischen Milch direkt aus der Kanne weggetrunken und meistens auch den Giggel (Brotkante) vom noch warmen Brot gegessen, das wir auf dem Rückweg noch beim Bäcker geholt haben. Es war einfach zu lecker und verlockend.
Der Milchindustrie-Verband (Quelle: www.miv.de) hat ein paar interessante Fakten zur Milch bei uns in Deutschland. Fast 60.000 Milcherzeuger halten 4 Mio. Milchkühe, die pro Jahr 33 Mio. Tonnen Milch produzieren. Im letzten Jahr verzehrte ein Bundesbürger 49,5 kg Konsummilch (entspricht quasi dem Gewicht eines Topmodels), 15,1 kg Joghurt, 25 kg Käse und stolze 5,8 kg Butter. Insgesamt wurden rund 4,5 Mio. Tonnen Konsummilch hergestellt, von denen ein nicht unerheblicher Teil in meinem Kühlschrank zu finden war, höhö.
Wer Lust hat, kann bei einem Glas heißer oder kalter Milch, einer heißen Schokolade, einem Cappuccino, einer Latte oder einem Tee mit Milch etwas über den Milchmann lesen.
Viel Erfolg (finde ich für dieses Buch angebracht… :-)) beim Lesen, eure Ella!