Sachbuch

Wo die wilden Frauen wohnen

Anne Siegel

Luftköpfe und Rote Strümpfe

Bereits nach wenigen Seiten hatte ich das Bedürfnis in den Keller zu rennen und meinen Koffer zu holen. Allein die Tatsache, dass man derzeit nicht reisen darf, hielt mich davon ab, mich persönlich davon zu überzeugen, ob das alles wahr sein kann, was Anne Siegel in ihrem Buch beschreibt. Der Übergang zwischen Biografien, Reiseführer und Geschichtsbuch ist fließend. In jedem Satz steckt die Begeisterung der Autorin für das Land, die Leute und die Natur, die so viel Einfluss auf das Wesen ihrer Bewohner ausübt. 

360.000 Menschen wohnen auf der Insel. Klar, dass es einfacher ist hier etwas zu bewegen als in einem Land mit 80 Millionen Einwohnern. Dennoch ist eine gewisse Lebenseinstellung Voraussetzung um Bewegung zu schaffen, Fortschritt und ein Neues Denken. 

In den Portraits der zehn Frauen werden einige Themen immer wieder aufgegriffen und verdeutlichen deren Stellenwert auf der nordischen Insel. Die Isländer nennen sich „Luftköpfe“, weil sie ein Volk sind, das gerne träumt und sich treiben lässt. Bedingt durch Wetter und Natur liegt es in ihrer Lebenseinstellung nichts auf die lange Bank zu schieben. Wenn man es täglich mit rund hundert Erdbeben zu tun hat, lernt man schnell, dass nichts von Dauer ist und man lieber handeln sollte als abzuwarten. 

Die Frauen sind „wild“, weil sie sich auf ihren eigenen Weg begeben und auf ihren Gebieten engagiert nach neuen Lösungen suchen. Sei es in der Arbeitswelt, der Politik, dem Wohlbefinden oder der Familie. Sie verwirklichen ihre Träume und gestalten damit auch die Gesellschaft. Ursprünglich kommt der Begriff der „wilden Frauen“ aus der Seefahrt, die in der Geschichte des Landes damals wie heute eine sehr große Rolle spielt. Es handelte sich um Gelegenheitsarbeiterinnen, die Schiffe ausluden und schwere Lasten wuchten mussten. Es hieß, sie waren stärker als manche Männer. 

Nirgendwo sind Männer und Frauen so gleichberechtigt wie in Island. Global betrachtet, verdienen Frauen nur 63% dessen, was Männer bekommen. In Island sind es 82%! Bei der Seefahrt wird sogar kein Unterschied gemacht und Frauen erhalten die gleiche Bezahlung. 

Gleichzeitig bedeutet das aber auch, dass Frauen einfach stark sein müssen. Sie gründen früh ihre Familien, viele sind auch Alleinerziehend, erhalten aber eine bessere Unterstützung vom Staat als bei uns. Auch die Männer bekennen sich zum Feminismus. Sie möchten, dass ihre Frauen glücklich und erfüllt sind. Stolze 96% der Männer nehmen Elternzeit und kümmern sich um den Nachwuchs. 

Die Arbeitskraft der Frauen wurde insbesondere am 24. Oktober 1975 deutlich, als „die Roten Strümpfe“, eine Feministinnen-Gruppe, den „Frauenruhetag“ ausrief und einen Tag lang komplett die Arbeit niederlegte. Die Männer waren vollkommen überrumpelt. Selbst die, die bis dahin glaubten, ihren Frauen ja zur Hand zu gehen, spürten die Folgen. Ein Umbruch setzte natürlich nicht sofort ein, aber mittlerweile führt Island regelmäßig das Ranking der Gleichberechtigung. 

In Island wird der Klimawandel besonders deutlich. „Gletscher sind die Seele des Menschen“, sagen sie, doch um die Seelen steht es schlecht. Derzeit gibt es noch knapp 300 Gletscher, doch gerade wurde der erste von ihnen beerdigt, nämlich der Ökjökull. Der Vatnajökull, der ganze 12% Islands bedeckt, ist auch der größte europäische Gletscher. Doch hier bildet sich bereits Moos, was ein erstes Zeichen für einen sterbenden Gletscher ist. An diesen Stellen wird sich nie wieder Eis und Schnee bilden. 

Die Isländer reagieren auf diese Entwicklung, indem sie ein Waldaufforstungsprogramm aufsetzen. Es wurden bereits drei Millionen Bäume gepflanzt, aber das ist erst der Anfang. 

Ein weiteres Ziel ist die Klimaneutralität bis 2040. Ich bin sicher, dass die Isländer ehrgeizig und konsequent genug sind um das auch zu schaffen.  

Besonders faszinierend finde ich, dass KünstlerInnen einen hohen sozialen Status genießen. Sie waren es auch, die nach der Bankenpleite ein paar Jahre lang den größten Anteil des BSP erbrachten. Hier entstehen Trickanimationen für Hollywood, Musikstars wie Björk entwickeln neue Instrumente und Apps, isländisches Design ist sehr gefragt. 

Als Booknerd begeistert mich natürlich vor allem „Jólabókaflód“, die alljährliche Bücherflut zu Weihnachten. Im Schnitt bekommt jeder Beschenkte 8 (!!!) Bücher zum Fest der Liebe. Dabei muss man bedenken, dass ein Taschenbuch bis zu 30 Euro kostet! 

Ach, es gibt noch so viel mehr zu berichten, aber lasst euch selber begeistern von den Geschichten der wilden Frauen: 

Rangerin Kristin: mit ihr würde ich auch eine Führung machen 

Brauerin Agnes: ihr Bier-Spa ist ein Hotpot mit Bier! 

Pferdekennerin Hulda: Islandpferde sind auch Nicht-Pferdefreunden ein Begriff 

Geothermalpionierin Hrefna: über Bildung in Island 

Musikerin Björk: wer erinnert sich nicht an ihr Schwanenkleid? Sie hat aber noch viel mehr zu bieten!

Abenteurerin Vilborg: besonders Frauen lassen sich von ihr die Natur zeigen

Schlafforscherin Bryndis: super interessante Informationen über Schlaf 

Museumsleiterin Kristin: über die Folgen eines Vulkanausbruchs 

Seefrau Steinunn: von einer, die seekrank wird und trotzdem immer wieder aufs Wasser zurückkehrt und

Gestalterin Katrin: aktuelles Thema: Urnen, sehr spannend!

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