
Die Gesichter der Wahrheit
Donal Ryan
Die drei Seiten der Wahrheit
Im Song „Shame“ sang Robbie Williams: „There`s three versions of this story: mine, yours and then the truth.“ Wohl deshalb ist die „Wahrheit“ ja auch so ein spannendes und streitträchtiges Thema.
Die Geschichte, die der irische Autor Donal Ryan in „Die Gesichter der Wahrheit“ erzählt, ist bedrückend und faszinierend zugleich. Durch die irische Finanzkrise verlieren viele Menschen ihre Arbeit und infolgedessen auch Wohlstand und Zufriedenheit. Pokey Burke, vormals Chef der örtlichen Baufirma, macht sich aus dem Staub und lässt die Menschen mit unbezahlten Gehältern, unfertigen Häusern und ohne soziale Absicherung zurück. Was passiert dann mit ihnen?
Bobby Mahan, der Vorarbeiter in besagter Baufirma war, ist sowas wie die Hauptfigur. Er hasst seinen Vater und wartet darauf, dass er endlich stirbt. Als der Vater eines Tages ermordet wird, steht Bobby natürlich sofort unter Verdacht.
In 21 Kapiteln lässt Ryan einundzwanzig Charaktere ihre Seite der Wahrheit erzählen. Dadurch entsteht eine Dynamik, die unglaublich faszinierend ist. Wie nehmen die einzelnen Figuren sich selber wahr? Wie die anderen? Was wissen sie, das der andere nicht weiß? Wie wurden sie die Personen, die sie jetzt sind?
Als wäre ein Mord noch nicht schlimm genug, wird auch noch ein Kind entführt! Wer steckt dahinter und was ist das Motiv?
Die Perspektivwechsel nehmen der Geschichte ihre Schwere und man hat die Möglichkeit, die Situation, in der ja alle gleichermaßen stecken, aus unterschiedlichen Gefühls- und Standeslagen zu betrachten.
Die Figuren sind so unterschiedlich und doch alle miteinander verbunden, so dass dadurch ein repräsentatives Gesellschaftsbild entsteht. Ein paar Beispiele:
Joseph „Josie“ Burke ist der Vater von Pokey, dem er sein Bauunternehmen aus Schuldgefühl übergeben hat, weil er seinen Erstgeborenen, Eamonn, viel mehr liebt. Er wusste, dass Pokey es nicht drauf hat, so ein Unternehmen zu leiten.
Réaltín ist eine von zwei Frauen, die ein Haus in der unfertigen Siedlung hat. Ihr Vater mäht den Rasen vor allen Häusern, damit sie es schön hat. Sie versucht, Bobby Mahan zu verführen, der glücklich verheiratet ist. Gerüchte über eine Affaire entstehen natürlich, als er ihr mit Bauarbeiten hilft. Vater ihres Sohnes ist Sean Schnösel.
Seanie bekam den Spitznamen Sean Schnösel, weil er immer sehr auf sein Äußeres achtete, jeden Tag sein T-Shirt wechselte. Er hat mit vielen Frauen geschlafen, egal wie sie aussahen. Heute ist er nicht mehr gut aussehend und allein. Seinen Sohn Dylan sieht er nur selten.
Jason ist im Gesicht tätowiert, er wollte einer Frau gefallen. Er hat alle möglichen Krankheiten, posttraumatischer Schock, ADHS, manische Depression,… Er will nichts arbeiten. Bobby hat mal seinen Wagen repariert – ohne Gegenleistung.
Frank beschreibt seinen eigenen Tod, sein Verhältnis zu seinem eigenen Vater und zu seinem Sohn, Bobby. Er fragt sich, wie er mit sich ins Reine kommen soll, wie es dazu kam, dass er mit Bobby noch schlechter umging, als sein Vater mit ihm.
Den Abschluss bildet Bobbys Frau Triona, seine große Liebe. In diesem letzten Kapitel löst sich natürlich die ganze Geschichte auf.
Sprachlich passt sich der Autor seinen Figuren an, so dass jede/r für sich sehr authentisch ist.
Der Duden beschreibt „Wahrheit“ als die Übereinstimmung einer Aussage mit der Sache, über die sie gemacht wird. „Die Gesichter der Wahrheit“ zeigt auch den Unterschied zwischen Wahrnehmung und Wahrheit. Wie nehmen wir jemand anderen wahr und was empfindet derjenige selber? Es setzt auch voraus, dass wir der Sache die nötige Aufmerksamkeit schenken, uns wirklich damit befassen und auseinandersetzen um eine Meinung bilden zu können. Oftmals geht das verloren, weil unsere Aufmerksamkeitsspanne durch die Flut an Reizen, die auf uns einstürmt, immer kürzer wird. Eine Sache von verschiedenen Seiten zu betrachten, würde mit Sicherheit viele Konflikte und Streitigkeiten gar nicht erst aufkommen lassen.
Im Original heißt der Roman „The Spinning Heart“, wobei ich in diesem Fall den deutschen Titel wesentlich treffender finde. Donal Ryan erhielt für dieses Buch den Irish Book Award, den Guardian First Book Award und den European Union Prize for Literature 2015.
One Comment
Stephen Rule
Great post!
We are linking to this great
article on our site.
Keep up the good writing.